Reminiszenen

Piper J3

Welch gähnende Leere vor mir! Irgendwie im Stich gelassen, kauere ich angeschnallt auf dem hinteren, dem Pilotensitz der J3, auf dem ich auch während der bisherigen Schulung immer gesessen habe. Leer ist der Sitz vor mir, und frei ist der Blick auf die wenigen Instrumente da vorn. Man braucht noch nicht so viele davon in diesem einfachen, kleinen Flugzeug. In den frühen vierziger Jahren hat man es gebaut für die US Army, deshalb hat es auch die lange, weit nach hinten reichende Kabinenverglasung aller “Grasshopper”. Seit einigen Jahren schon tut D-EDYS im ursprünglichen Piper-Gelb mit dem schwarzen Blitz auf den Rumpfseiten ihren Dienst bei der Motorflug G.m.b.H. in Koblenz-Karthause. Die Karthause, heute längst eine Hochhaus-Wohnsiedlung, ist jetzt, im Januar 1958, noch ein geräumiger Flugplatz mit zerfurchter Grasnabe.

Ruhig dreht der Holzpropeller, klickend gehen die Ventile des 65 PS Continental, der Auspuff blubbert. “Mach deine Sache anständig, mach mir keine Schande,” gibt Trapp mir, neben der noch offenen Klapptür stehend, eine letzte Ermahnung mit auf den ersten Alleinflug. Die brave Piper soll ich nicht verbiegen, die Augen offen halten. Ganz allein soll ich sie nun fliegen, ich, der ich mich noch vor wenigen Flugstunden oft ziemlich dämlich und zuweilen hilflos angestellt habe. Na gut, der wird’s ja wissen als Vorkriegs- und Kriegsflieger und Fluglehrer der alten Schule! Den ganzen Tag sitzt er im Flugzeug, steigt nur zum Tanken und zum Anwerfen des Propellers aus. Nein, einen Anlasser hat diese Piper noch nicht, keine Batterie, kein elektrisches Bordnetz. Die einzige Elektrik ist an den Motor geschraubt in Gestalt der beiden Zündmagnete. Anwerfen dürfen wir Flugschüler nicht wegen der Unfallgefahr. Das brauchen wir nicht mehr zu lernen, denn alle “richtigen” Flugzeuge werden heutzutage elektrisch angelassen.

Mittags kriegt Trapp immer seinen Henkelmann ans Flugzeug gebracht. Da sitzt er dann vor mir und löffelt, während ich bemüht bin, das “Piperle” möglichst ruhig zu steuern, über das Moseltal hinweg an Koblenz vorbei ins Neuwieder Becken, Wechselkurven mit 20 und 40 Grad Schräglage, Steig- und Sinkflüge übend. Hügelig, bergig ist die Gegend, Luftwirbel bilden sich. Gar so leicht ist es nicht für den Neuling, dieses Flugzeug mit seiner niedrigen Flächenbelastung immer wieder zurückzusteuern. Die Piper könnte es allein viel besser, wenn ich sie nur ließe, lassen dürfte. Aber ich soll ja fliegen und nicht lassen, soll mein fliegerisches Gefühl entwickeln. Die Motorhaube und die Flügelstreben im Vergleich zum natürlichen Horizont bieten den optischen Anhalt. An dunstigen Tagen haben Lehrer und Schüler manchmal wenig Freude aneinander.

Anzufliegende Geländemarken werden über die vorn aus dem Tankdeckel ragende Fahrradspeiche angepeilt. Am unteren Ende des Drahtes ist ein Korkschwimmer befestigt. Das ist die Tankanzeige. Ist nur noch wenig von dem Draht zu sehen, wird zur Zapfstelle gerollt. Der Flugschüler hebelt nun per Handpumpe die fehlenden 40 bis 50 Liter Benzin in den Rumpftank vor dem Cockpit. Er ist sowieso der Betreuer seines Flugzeugs, wäscht abends all die Lehmspritzer ab mit Eimer und Schwamm. Da die J3 keine Schutzbleche hat, sieht die Flügelunterseite über den Rädern oft bös aus. Das macht Freude, diese Kruste über Kopf aufzuweichen. Das eiskalte Wasser läuft den Arm herunter bis in die Achselhöhle, die dicke Winterkleidung nützt da nichts.

Nun gut, ich werde allein fliegen. Vor einigen Tagen ist einem Alleinflieger kurz nach dem Start mit der D-ECIN der Motor ausgegangen, über dem Steilhang zum Moseltal. Kurz vor der Notlandung kam der Motor wieder. Neulich hatte uns der Motor unserer EDYS beim Abheben im Stich gelassen, beim Start auf eine Telefonleitung und die Treibhäuser einer Gärtnerei zu. Fluchend hatte Trapp den Gashebel hin und her gerissen. Dann hatte der C65 seine Krise überwunden oder die Luftblase in der Benzinleitung.
Daran will ich jetzt nicht denken, ziehe die Halbklappen der Seitentür zu. Ein bißchen mehr Gas, und holpernd setzt sich die Piper in Bewegung, “meine” Piper nun, wer wollte das bezweifeln? In Schlangenlinien rolle ich zum Start, denn über die Motorhaube kann ich nicht sehen. Gut läßt sich die Piper steuern am Boden. Das Spornrad ist über Zugfedern mit dem Seitenruder verbunden und reagiert direkt. Es hat eine Rutschkupplung, die bei Überbelastung nachgibt, also beim Drehen auf der Stelle, beim Rangieren. Man kann die Piper auf einem Fahrwerksrad drehen, wenn man die entsprechende Bremse tritt und den Motor ein bißchen brummen läßt. Sehr einfache, aber immerhin hydraulische Bremsen hat auch schon die J3 an den Haupträdern. Sie werden mit spornartigen Hebeln unterhalb der Seitenruderpedale betätigt. Mit den Hacken.

Sorgsam führe ich die Startkontrolle durch, ein Versager könnte jetzt besonders unangenehm sein. Vollgas läßt die kleine Maschine zittern und hüpfen. Weder auf dem rechten noch auf dem linken Magneten der Doppelzündanlage zeigt sich ein untunlicher Drehzahlabfall. Na schön. Höhenrudertrimmung (Autofensterkurbel) in Startstellung, Vergaservorwärmung (Schiebeknopf) aus, Öldruck o.k., Gurte straff gezogen, Anflugrichtung frei, ich rolle auf die abgesteckte Piste, richte den Vogel aus. Tiefes Einatmen, Knüppel ein bißchen zurück, Gashebel gegen den vorderen Anschlag, Ausbrechtendenz nach links mit dem rechten Seitenruder kompensieren. Lauter als zuvor dröhnt der Motor durch die nun halbleere Kabine. Ein Stückchen nur holpert das so leicht gewordene Flugzeug über das Gras, und schon fliege ich, fliege allein in der Piper!

Und dann ist alles Routine, wie hundertmal geübt über der gewohnten Landschaft. Erst 150 m hoch, im Rückenwindteil der Platzrunde, als ich das Gas auf Reiseleistung zurückgenommen und die Trimmkurbel ein wenig nach hinten gedreht habe, der Motor mit gemütlichen 2100 U/min nagelnd vor sich hin brummelt, die Piper mit 60 Meilen pro Stunde (97 km/h) dahinschaukelt, da habe ich wieder Zeit zum Denken. Nun bin ich auf mich allein gestellt, werde auch die Landung hinkriegen müssen. Die Kabinenbespannung vibriert im Takt des Propellers, geisterhaft bewegt sich der Steuerknüppel vor dem leeren Vordersitz. Nie wieder habe ich später einen ersten Alleinflug auf einem neuen Muster so stark empfunden wie jetzt. Da saß ich dann ja immer vorn, und ob hinten ein “Steuerberater” verzweifelt die Hände rang oder nicht, das war dann gleichgültiger.

Zurück zum Geschäft. Zeit zum Einkurven auf den Queranflug, 45 Grad zum Landekreuz beginnt der Gleitflug. Bloß die Vergaservorwärmung nicht vergessen, sonst stellt der Motor womöglich ab, wenn ich durchstarten muß! Das Motorgeräusch erstirbt zum Murmeln, als ich den Gashebel ganz zurückziehe, Trimmkurbel dreimal nach hinten, Landekurve, Fahrt halten, sauber ausrichten, den leichten Seitenwind mit hängendem Flügel und Gegenseitenruder ausgleichen. Die Hausdächer am Platzrand gleiten unter mir vorbei. Ob die da unten wohl eine Ahnung haben, was hier oben vorgeht? Schon naht der Aufsetzpunkt, ganz langsam den Gleitflug abflachen. Nun bloß nicht zu früh mit dem Hauptfahrwerk allein aufsetzen! Die halbleere und federleichte J3 springt dann wie ein Bock, und im Geist hört man die Beobachter am Start die Wochentage mitzählen. Die Gummistränge der Federung des Fahrwerks nehmen Stöße auf, dämpfen sie aber nur wenig. Hydraulische Stoßdämpfer werde ich erst bei meinem nächsten Flugzeugmuster kennenlernen.

Also “aushungern” muß ich die Piper in 30 cm Höhe, Knüppel anfangs ganz langsam und dann zunehmend rascher an den Bauch. “Nicht landen sollst Du wollen, sondern noch so weit wie möglich fliegen, bis sie nicht mehr kann und sich hinsetzt!” Eine der wertvollen Lehren meines Fluglehrers, jenes unvergeßlichen Trapp. Jahre später selbst Fluglehrer, werde ich sie wie manche andere an unzählige Flugschüler weitergeben. Jetzt befolge ich sie erst einmal, alle drei Räder berühren gleichzeitig und rumpelnd den Boden. Ich rolle zum nächsten Start zurück. Trapp steht an der Startstelle und schüttelt lachend die Faust: “Du Hund, du kannst es ja!”

Aufatmend und innerlich jubelnd rolle ich später zurück, stelle den Motor ab, Brandhahn zu, Trimmung normal, Vergaserheizung aus, das war’s. In lockerer Reihe haben sich die Lehrer und Mitschüler aufgebaut. Nicht ohne Hierarchie geht es auch bei der Gratulation zu, dem mit mehr oder weniger gezielter Technik ausgeführten Klaps auf die von zwei freundlichen Helfern gebeugte und gestraffte Kehrseite des Alleinfliegers. Schulungsleiter Schieferstein macht den Anfang, das Lehrerkollegium folgt, die lieben Lehrgangskameraden schlagen mit Herzlichkeit zu. Tief dankbar bin ich, daß nicht Juli ist und nicht lediglich Turnhose und ein dünner Overall mäßige Dämpfung bieten. Einer alten Überlieferung zufolge soll diese Behandlung das hier angesiedelte, soeben gewonnene und nachgewiesene fliegerische Gefühl verfestigen.

Nie wieder hat mich die Erinnerung an die Piper J3 verlassen, an diesen Geruch von Spannlack, Farbe, Benzin und Öl, an den polternden Motor, das klappernde Schiebefenster links, die “Benzinuhr” vor der Frontscheibe, das “Plopp” der geöffneten und gegen den Rumpf schlagenden Einstiegsklappe. Sehr vielen geht das so. Als eine Art “Volksflugzeug” während der Geldnot der frühen dreißiger Jahre im Vorläufer entstanden, sollte die einfache und billige Piper J3 gut und gern 30 Jahre lang zu einem der Standard-Schul- und Sportlugzeuge der westlichen Welt werden. Noch heute, fast fünfzig Jahre nach der Einführung des Musters, befinden sich viele Exemplare weltweit im Flugbetrieb, als gepflegte Liebhaberstücke oder sogar noch als Alltags- Gebrauchsflugzeuge. Manche wurden mit stärkeren Motoren versehen, einige sogar mit um 2 m verkürzter Flügelspannweite als “Clipped Wing Cub” im eingeschränkten Kunstflug eingesetzt. All das macht die bei abgezogener Bespannung so erschreckend zerbrechlich wirkende Konstruktion jahrzehntelang mit, selbst noch die Weiterentwicklung zur “PA 18 Super Cub” mit Motoren bis 150 PS und Landeklappen, der als Schulflugzeug erst die Cessna 150, als Schleppflugzeug erst die Morane oder die Jodel Remorqueur den Rang ablaufen konnten.

Ursprungsflugzeug jedoch bleibt immer die leichte J3 Cub für zwei Personen mit leichtestem Gepäck, die mit 16 Litern Benzin pro Stunde bis zu 100 km weit fliegen wollen. Die Cub (das Bärchen) bezog ihre legendäre Gutmütigkeit und Anfängertauglichkeit immer aus ihrer geringen Flächenbelastung, dem einfachsten und sicherlich preiswertesten aerodynamischen Rezept. Über Fluggeräte, die im grundsätzlichen Aufbau den Flugzeugen der Pionierzeit kurz nach der Jahrhundertwende ähneln, griffen die Ultraleichtflieger das 50 Jahre alte Konzept ursprünglicher Einfachfliegerei wieder auf. Schon zeigt sich die allmähliche Abkehr von der offenen Rohrkonstruktion, werden Muster der dreißiger Jahre nachempfunden (auch gerade die Cub), werden Stimmen laut, die nach den neuen Einfachflugzeugen rufen, gewichtsmäßig zwischen den Ultraleichten und den heute üblichen, sündhaft teuren Ganzmetall- oder Kunststofflugzeugen angesiedelt. Kommt eine neue Ära der Piper J3?

Ewig lange schon wollte ich ein RC-Modell dieser Piper bauen. Die Modellkonstruktionen dieses Musters und seiner Nachfolger sind mittlerweile Legion. Nur sehr wenige Entwürfe schienen mir von ihrer Art her dem Konzept der J3 zu entsprechen.

Und immer wieder anderes kam mir dazwischen. Nun, wo ich über dem so reichhaltig ausgestatteten, rundherum so löblichen Baukasten und Bauplan der Piper J3 von practical scale hocke, kommt all das zurück, als wäre es vorgestern gewesen. Kein Wunder, daß dieser Bausatz schon so lange produziert und verkauft wird. Da waren Flugzeugliebhaber und Scale Praktiker am Werk, die hier nicht die vorbildgetreue Türklinke oder Sitzverstellung im Vordergrund sehen, sondern das maßstabsgerechte Flugzeugmodell mit den Eigenschaften des Originals. Und so universell wie dieses kann auch das Modell ausgerüstet und motorisiert werden, mit einem Motor, der es gerade und vorbildgerecht zum Fliegen bringt bis zur Triebwerksgröße, die ziemlich wilden Kunstflug und das Schleppen auch sehr großer Segler erlaubt. Klar, daß man das Modell der Scale-Praktiker auch mit einem ihrer Benzinmotoren versehen wird, wenn man sich schon keinen der fünf- bis siebenmal so teuren Mehrzylinder-Viertakter leisten kann. Optisch passen die natürlich besser dazu, wenngleich auch nicht übersehen werden sollte, daß sie mit ihrem allzu weichen, ideal umweltfeundlichen Summen akustisch nicht dem rauher klingenden Originaltriebwerk der J3 entsprechen.

Erfülle ich mir nun endlich den jahrzehntealten Traum vom originalgetreu fliegenden Nachbau des ersten Flugzeugs, mit dem ich allein geflogen bin!

Lars Waegner